Im Gleichschritt Marsch 2: Blattläuse bauen keine Mondraketen

Im ersten Teil der Miniserie Im Gleichschritt Marsch haben wir uns mit der Funktion der Ideologie befasst. Ich habe zwei Dimensionen vorgestellt, mit Hilfe derer man die Begrifflichkeiten einsortieren und sich Gedanken zu einem perspektivischen Erfassen, Vorstellen und Untersuchen von Weltanschauungen und Ideologien machen kann:


Dimension 1:


Weltanschauung/en <——————————————————> Ideologie


Differenzierter:


<- pluralisierend – – – singularisierend ->


Weltanschauung/en <——————————————————> Ideologie


Dimension 2:


Komplex <————————————————————–> Reduktionistisch


Für diejenigen, die den ersten Teil noch nicht gelesen haben oder die sich noch einmal hineinbegeben möchten, hier der Link:https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/die-funktion-der-ideologie


Zum leichteren Einstieg wiederhole ich einige Absätze:



Je komplexer die Umwelten für das Empfinden des Einzelnen sind, desto wahrscheinlicher ist der Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie. Das gilt umso mehr, je weniger der Einzelne darauf vorbereitet ist, mit Komplexität umzugehen, sie auszuhalten, auch die Überforderung einfach mal zu akzeptieren und zu schauen, wohin sie führen mag.


Je höher das Kontingenzbewusstsein des Einzelnen, desto wahrscheinlicher die Pluralisierung der Weltanschauung. Je niedriger, desto singularisierender die Ideologie.
(Dabei ist es zu plump, in Anhängern von Ideologien nur Menschen zu sehen, die Sicherheitsängste haben, bzw. die Sicherheitsangst an sich abzuwerten – sie hat Sinn und Funktion. Auch Fragen zu stellen kann Menschen dahin führen, sich einer ideologischen Bewegung anzuschließen. Allerdings hat die Ideologie die Neigung, Fragen zu beantworten, anstatt das Fragen zu motivieren, so dass sich dann die Frage stellt, wie groß Mut und Sinn zur Frage, zur Offenheit und zur Unbestimmtheit, die in alles Bestimmte involviert ist, im Einzelnen sind, der sich jetzt nicht nur gegen sich selbst und seinen Willen zum Wir entscheiden muss, sondern auch gegen die Gruppe, in die er konditioniert und konditionierend eingewickelt ist und die eine emotional pressierende Sprache spricht, an die er sich angepasst hat und auf die seine Entscheidungs- und Selbstbeschreibungsautomatismen antworten.)


Komplex ist ein Sachverhalt immer dann, wenn nicht alle Elemente dieses Verhalts gleichzeitig mit allen anderen relationiert werden können.


Kontingent ist etwas dann, wenn es weder notwendig noch unmöglich: wenn es auch anders möglich ist.


Der Wille gleichzuschalten ist Teil des Willens zur Macht über sich selbst und über die eigenen Hoheitsgebiete – oder anders, Teil des Willens zum symbol-manipulativen Umgang mit den verschiedenen materiellen und geistigen Freiheitsgebieten. Er ist nicht per se verkehrt, er liegt in der Natur des Menschen. Sich in komplexen Umwelten zu orientieren, verlangt, Entscheidungen zu fällen. Sich in komplexen Gesellschaften zu orientieren, verlangt, sich selbst an andere anzupassen, aber auch andere zur Anpassung zu motivieren.


Der Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie ist der Übergang von der einfachen Orientierung hin zu einer mit Pressionen, die potenziell gewalttätig werden können. Die Pression ist immer der Teil der Mitteilung, der die Annahme der Kommunikation und der Mitteilung wahrscheinlicher machen soll.


Der Übergang ist fließend, und die Motivation zur Ideologie lässt sich als faschistoider Impuls begreifen.


Den faschistoiden Impuls schlage ich als harten Begriff vor, um sich der Problematik dieses Mechanismus im Einzelnen und damit in sich selbst bewusst zu werden. Er bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich Faschisten sind, aber er bedeutet auch nicht, dass der Faschismus vom Himmel fällt und nur die anderen trifft.


(Der Widerspruch zwischen dem fließenden Übergang und dem harten Begriff ist interessant genug, um länger darüber nachzudenken, und vielleicht fällt dem einen oder anderen meiner Leser an dieser Stelle auch auf, dass der faschistoide Impuls paradox ist …)


Das Wort „fasces“ (Plural zum Singular „fascis“) stammt aus altrömischen Zeiten, in denen „Fascis“, lat. für „Bündel“, ein Bündel von Ruten war, die vor Amtsträgern hergetragen wurden und mit denen man die Massen teilte, um den Weg zu bereiten. Der Kerngedanke war vermutlich der, dass mehrere Ruten zusammenzubinden sie weniger leicht brechen lässt. Auf das Prinzip der fasces hatten sich im 19. Jahrhundert Arbeiterbewegungen berufen und sich „fasci dei lavoratori“ oder „fasci siciliani“ genannt. Später wurde der Begriff politischer und gelangte dann unter Benito Mussolini erstmals zu internationalem Ruhm (Quelle: Wikipedia).
Der Begriff „Faschist“ wird heute weitestgehend dazu verwendet, diejenigen auszugrenzen, deren Bündelung einem nicht gefällt.


Es ist dieser Impuls zu bündeln, den Weg zu bereiten und die Massen zu teilen, um den es bei der Ideologie geht.


Er macht sich in der abgrenzenden Rhetorik des Ideologen bemerkbar, wie er „klare Fronten“ schafft, vermittels derer er sich selbst definiert.


Und je mehr gebündelt wird, desto mehr verliert die Ideologie an Differenzierung und an Anders-Möglichen, an Kontingenz. Sie verliert an Differenzierung, weil sich die Massen an ihr organisieren, und aus dem gleichen Grund verliert sie an Kontingenz, denn wenn sich viele Menschen über ihre Ängste einigen müssen, müssen die Abgrenzungen immer radikaler werden.


So grenzt sich Ideologie gegen Ideologie ab, ganz besonders aber gegen pluralistische Dimensionierung und Differenzierung.



Je singularisierender die Ideologie, desto härter, distinkter und potenziell gewalttätiger die Abgrenzung gegen andere Ideologien. Ideologien können sich gegenseitig begründen, bestärken, benötigen. Am Links- und Rechtsextremismus wird die identitätsbildende und -stärkende Wirkung dieser Abgrenzung deutlich. Mit der Abgrenzung kommt die entsprechende Terminologie. Die Sprachmuster anderer werden auf Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit getestet, und je größer die Masse, die sich an der Ideologie organisiert, desto einfacher werden die Tests.


Je pluralisierender die Weltanschauung, desto integrativer wird sie. Sie muss dabei in ihrer Terminologie nicht unbedingt gleich komplexer werden, aber sie wird definitiv zunehmend toleranter Andersdenkenden gegenüber. Diese Toleranz kann von Seiten der sich singularisierenden Ideologie immer weniger verstanden, be-griffen werden. Sie überschreitet außerdem die Grenzen des Konstruktiven, wenn sie so weit geht, intoleranten Ideologien Raum zu geben.


Klar erkennbar wird der faschistoide Impuls, wenn die Sprachmuster der Ideologie diese Form annehmen: „Wer nicht für uns ist, muss gegen uns sein!“ Das ist die Logik des reduktionistischen und singularisierenden Ideologen. Wer nicht dazu bereit ist, sich auf die Ideologie einzulassen, wird zum Feind des Ideologen – im Zweifelsfalle sogar zum Feind der ganzen Gesellschaft.


Versuchen wir, verschiedene Weltanschauungen und Ideologien in unsere Dimensionen einzusortieren, sehen wir deutliche Unterschiede und können erkennen, dass Weltanschauungen und Ideologien Umwelten/Kontexte haben, dass manche Strukturen das Zustandekommen von Ideologien wahrscheinlicher machen als andere und dass Menschen, die in der einen Gruppenumgebung aus ihrer Weltanschauung eine Ideologie bilden, in einer anderen ganz anders reagieren. Außerdem können wir erkennen, dass es sehr unterschiedliche Formen der Ideologie gibt. Die Differenz pluralisierend/singularisierend hilft zu verhindern, dass man grob schubladisiert und dabei nicht mitbekommt, wie klein, wie fließend und schwer greifbar der Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie ist.



  • Es gibt Ideologien, die Werte ausbilden, die anderen ihre Andersartigkeit lassen und erlauben.

  • Es gibt Weltanschauungen von geringer Komplexität.

  • Es gibt Ideologien, die mit hoch komplexen Terminologien arbeiten.

  • Es gibt Weltanschauungen, die stark reduktionistisch organisiert sind und wirken.


Man vergleiche zum Verständnis folgende Weltanschauungen/Ideologien:



  • Bön-Buddhismus

  • Skeptizismus

  • Zen-Buddhismus

  • Agnostizismus

  • Law-of-Attraction-Esoterik

  • Neonazismus

  • Marxismus-Leninismus

  • Linksradikaler Anarchismus

  • Taliban

  • Ku-Klux-Klan

  • Sufismus

  • Scientology

  • Pluralismus

  • Konstruktivismus


Je länger man darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es bei einigen, sie einzusortieren, und es fällt auf, dass ein für Alle und für alle Verhältnisse, Zustände, sozialen Bedingungen allgemein gültiges Einsortieren schwerlich möglich ist. Es müsste einem dabei klar werden, wie stark die individuelle Position von der Gruppenhaltung abweichen kann und wie situative Unterschiede wirken. Ein Skeptiker kann eine pluralistische Grundhaltung haben, er kann aber wie jeder andere auch im Kontext einer fragmentierenden und singularisierend wirkenden Umgebung (wie beispielsweise Facebook) zum abgrenzenden Ideologen werden, der sich beispielsweise am Feindbild der Law-of-Attraction-Esoterik stabilisiert und dabei aufhört wie ein aufgeschlossener Wissenschaftler zu denken. Ein Hardliner muss kein Hardliner überall sein. Milieu und Mensch lassen sich nicht so einfach voneinander trennen. Wer die Gesellschaft ohne das Individuum denkt, der verliert die Möglichkeit es auf seine Eigenverantwortlichkeit anzusprechen. Wer das Individuum ohne die Gesellschaft denkt, vergibt die Chance auf Verständnis für das Fehlen von Eigenveranwortlichkeit. Auf der einen Seite trägt das Individuum in der Masse zu gesellschaftlichen Entwicklungen bei, auf der anderen Seite kann es selbst aber nicht kontrollierend verändernd wirken.


Wissenschaft arbeitet reduktionistisch. Das gilt auch für die Systemtheorie. Reduktionismus als wissenschaftliche Methode hat erst einmal mit Ideologie nichts zu tun, egal wie häufig ein Esoteriker behaupten mag, dass auch alle Wissenschaft nur Ideologie sei. Wissenschaftlicher Reduktionismus und ideologischer Reduktionismus sind nicht dasselbe. Wissenschaftlicher Reduktionismus folgt der Idee, dass komplexe Sachverhalte auf einige wenige Ursachen oder Wirkmechanismen zurückgeführt, reduziert werden können. Auch der ideologische Reduktionsimus versucht einfache Wirkzusammenhänge zu produzieren, aber seine Aufgabe ist nicht wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn. Funktion und Leistung der Ideologie können wissenschaftliche Methoden zulassen, aber sie werden das nur dort und nur so lange tun, wo und wie die Ideologie nicht in Gefahr gerät. Ein Beispiel für ideologischen Reduktionismus ist die Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die Idee-Ologen zum Anlass nehmen, wirtschaftliche Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Probleme auf sie zurückzuführen, auf sie zu reduzieren. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise für den Einzelnen besteht unter anderen darin, dass er eine Erklärung für die beunruhigende Tatsache hat, dass er nicht kontrollierend verändernd wirken kann.


Wissenschaftlicher Reduktionismus kann in Ideologie abgleiten. Wie immer, wenn so etwas passiert, ist da kein Platz mehr für Freiheit und das Unbestimmte, das Freiheit überhaupt erst möglich macht. Die Orthodoxie kann religiös oder wissenschaftlich sein, jedoch der Schluss, dass ein religiöser Mensch gleich orthodox sein muss, ist genauso unzulässig wie der, dass ein Skeptiker keinen Sinn für offenes Forschen hat.


Dimension 2:


← unbestimmter – – – bestimmter →


Komplex <————————————————————–> Reduktionistisch


Wir erinnern uns, dass ein Sachverhalt genau dann komplex ist, wenn nicht alle Elemente des Sachverhalts gleichzeitig mit allen anderen relationiert werden können. Die Systemtheorie befasst sich mit komplexen Systemen. Sie untersucht ihre Selbstorganisation, und sie versucht mit reduktionistischen Mitteln Analysen und Vorhersagen zu generieren. Gleichzeitig verweist sie aber immer wieder auch darauf, dass sich autopoietische Systeme nicht punktuell von außen vorhersagen lassen. Sie integriert den Beobachter als gestaltend wirksam werdenden Faktor in die Beobachtung und kann so die Grenzen ihrer eigenen Zuverlässigkeit und Nützlichkeit angeben.


Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit ist eine Fähigkeit, die der Mensch in komplexen Umwelten benötigt, um zu überleben, sich sein Leben zu gestalten und halbwegs bei Verstand zu bleiben. Sie ist wichtiger als Intelligenz. Sie entscheidet über Frustrationstoleranz, die Methoden der Unsicherheitsabsorption und den Umgang mit eigenen und fremden Ängsten.


Weltanschauungen und Ideologien reduzieren Komplexität. Je niedriger die Komplexitätsverarbeitungsfähgkeit eines Menschen, desto weniger komplex in der Regel seine Weltanschauung oder seine Ideologie. Je höher die Umweltkomplexität und je bedrohlicher sie empfunden wird, desto wahrscheinlicher der Übergang von Weltanschauung in Ideologie. Das erklärt, warum wir auf Facebook so häufig dem faschistoiden Impuls begegnen: Dort kommuniziert jeder in der Öffentlichkeit. Mit dem „gefällt mir“-Button wird das Feedback der Öffentlichkeit implementiert. Der Einzelne ist auf das Problem zurückgeworfen, ständig damit leben zu müssen, dass eine durch ihn nicht konkret bestimmbare Masse auf das reagiert, was er/sie zu sagen hat. Wir können auf Facebook erkennen, dass die meisten Menschen nicht darauf vorbereitet sind, mit einer unbestimmten Masse zu kommunizieren und den Konditionierungsdruck, der durch die unbestimmte Masse an sie herangetragen wird, bewusst und sinnvoll zu verarbeiten: Sie erzählen ihre intimsten Geheimnisse vor einer diffusen Öffentlichkeit. Einfache Trigger reichen bei vielen aus, um dem faschistoiden Impuls nachzugeben – ein Resultat aus Komplexitätsüberforderung und im Identitätsbildungsprozess. Die Sachebene kann nur selten gehalten werden, die Themen fragmentieren, der Themen-re-entry wird zum Problem, zur Herausforderung – und oft genug findet er einfach gar nicht erst statt.


Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit kann man an drei Merkmalen messen:



  1. Wie viele Dimensionen kann jemand unter Stress zur Bewältigung der Komplexität eines Themas, Sachverhalts, Problems heranziehen? Für jemanden, der alles mit dem Hammer bearbeitet, sieht alles wie ein Nagel aus.



  1. Wie differenziert sind die jeweiligen Dimensionen ausgearbeitet? Viele Dimensionen heranziehen, diese aber nicht hoch auflösen zu können, mag ein hohes Toleranzmaß mit sich bringen, führt aber nicht unbedingt auch dazu, dass man Bullshit erkennen kann oder Fehler in den Argumenten anderer (oder eigenen).

  2. Wie schnell kann der Betreffende dimensionieren und differenzieren? Temporeichtum der Dimensionierung und Differenzierung schafft einen gewaltigen Vorteil, wenn man unter Druck rasch Entscheidungen fällen muss. Unter Stress zeigt sich die Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit.


Je höher die Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit des Einzelnen, desto höhere Komplexitäten kann er beobachten und managen, was bedeutet: konstruieren. Eine hohe Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit ist ein ausgezeichnetes Mittel für Stressmanagement. Facebook und Twitter und andere Social Media Tools brauchen/nutzen den Ärger, die Wut, das Leid, den Schmerz, die (virtuelle) Emotion und setzen deshalb gezielt Methoden zur Reduktion der Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit ein. Trivialisierende Weltanschauungen und Ideologien reduzieren Komplexität auf einem niedrigen Level und auf ein niedriges Level. Systemiker nennen solche Beschreibungen/Modelle, die der Komplexität eines Sachverhalts oder Problems nicht gerecht werden, „unterkomplex“. Das Wort bedeutet, dass man mit einer höheren Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit mehr Dimensionen und eine höhere Differenziertheit der Beschreibung des Sachverhalts oder Problems erreichen kann.
Hervorragende Systemik zeichnet sich durch beides aus: ein hohes Maß an Betrachtung von Unbestimmbarkeiten und ein hohes Maß an Bestimmbarkeit. Was bestimmbar gemacht werden kann, hängt von der Fähigkeit ab reduktiv und funktional zu denken. Der Streit Reduktionismus versus Holismus ist aus systemischer Perspektive betrachtet nicht sinnvoll, weil beide ihre Berechtigung haben.


Menschen unter Stress sind Menschen, die ein Problem mit zu hohen Komplexitäten oder zu einengenden Bedingungen (oder sogar beides gleichzeitig) haben. Im einen Fall empfindet man die Situation als chaotisch, im anderen als zu rigide, zu starr, und aus als chaotisch empfundenen Zuständen können zu rigide, zu starre Maßnahmen folgen, wie umgekehrt aus zu rigiden, zu starren Zuständen chaotische entstehen können. Die Ideologie schaltet gleich und reduziert Komplexität. Sie bestimmt bislang Unbestimmtes, und sie macht es so, dass sich Einzelne, Gruppen, ganze Gesellschaften sicherer fühlen können. Populisten sprechen immer Sicherheitsängste an. Sie wissen instinktiv, worauf die Menschen reagieren, und es kommt auch nicht von ungefähr, dass es das liebe Geld ist, das die Gemüter ganz besonders erregt. So baden manche rechte Ideologen regelrecht in der Vorstellung von vergewaltigenden Syrern in nächtlichen Parks und beklagen, dass wir „denen auch noch das Geld nur so zustecken“. Die Gruppe verspricht Sicherheit, der Gedanke das Gleiche zu denken und zu wissen vermittelt Ruhe. Zu manchen Ideologien gehören Initiationsrituale. Manche Sekten und politische Gruppen drohen ihren Mitgliedern mit Ausschluss und sorgen so dafür, dass der abschreckende Gedanke der Ausgrenzung auch nach innen hin wirkt. Wer etwas leisten muss, um dazuzugehören, der findet die Sache gleich attraktiver, wenn er die Leistung erbringt.


Empfundenes Chaos wird vermittels Weltanschauung oder Ideologie in Ordnung überführt, und auf politischer und persönlicher Ebene kämpfen die Extreme Freiheit und Sicherheit gegeneinander. Je pluralistischer, desto niedriger die Sicherheitsregularien – je singularisierender, desto niedriger die Freiheit. Wo dem Einen der Begriff „Chaot“ eine liebenswürdige Bezeichnung ist, sucht die BILD-Zeitung zusammen mit ihrer stumpfen Leserschaft nach der „Krawall-Barbie und den 103 Chaoten“.


Je mehr der Mensch auf Sicherheitsängste zurückgeworfen ist, desto wahrscheinlicher wird, dass er die Unbestimmtheit, die Komplexität zugunsten der Bestimmtheit, der Reduktion aufgibt, dass er von Freiheit zugunsten von Sicherheitsmaßnahmen lässt. Je höher die Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit des Individuums, desto unwahrscheinlicher wird, dass sie/er sich „schnell ins Bockshorn jagen lässt“. Sie/er wird im Gegenteil eher die Ruhe bewahren und pluralistischer denken. Sie/er kann in Kontingenzen denken und Paradoxien verarbeiten, sie/er weiß um das Auch-Anders-Mögliche, und sie/er wird nicht so schnell auf die Idee kommen, in ideologischen Reduktionismus zu verfallen. Kann sie/er das aber nicht, kann sich ihr/sein Pluralismus als eine Form von Ideologie entlarven, und der Sicherheitsgewinn, den sie/er dabei hat, ist genauso lebensecht wie der des Neonazis. Die komplexen realpolitischen Probleme müssen sie/ihn nicht berühren und folglich auch nicht beunruhigen. Weil jemand Pluralist ist, ist sie/er nicht gleich „besser“ oder „weiter entwickelt“. Sie/er ist auch nicht gleich intelligenter. Auch beim Pluralismus stellt sich die Frage, wie hoch und wie schnell der Einzelne dimensionieren und differenzieren kann.


Erst wenn mehrere Dimensionen zur Betrachtung herangezogen und diese hoch aufgelöst werden können und der Einzelne das auch noch unter Druck und temporeich schafft, entsteht die Chance zur (gesamt)systemischen Analyse. Erst dann kann damit gelebt werden, hohe Komplexitäten zu verarbeiten und nach ihnen angemessenen Lösungen zu suchen. Erst dann können Problembeschreibungen geliefert werden, die Funktionalität gewährleisten.


Die Werte der jeweiligen Ideologie schaffen Projektionsfläche für das Gleichschaltungsinteresse.
Sie und die mit ihnen verbundene Philosophie sind für Individuum und Gesellschaft austauschbar, kontingent – wenn auch nicht beliebig. Ihre Beliebigkeit ist durch Sozialisation/Konditionierung, Kultur und Bildung, individuelle und gesellschaftliche Historie begrenzt, aber innerhalb dieser Grenzen sind, wie politische und religiöse Gehirnwäschen und Kulturrevolutionen gezeigt haben, Überraschungen immer möglich. Es gibt Menschen, die sich ohne erkennbare Vorzeichen plötzlich aufmachen, um sich ISIS anzuschließen. Überzeugte Christen wechseln zum Zen-Buddhismus. Menschen, die nie von sich selbst gedacht hätten, dass sie Rassisten sind, zeigen im Kontext von Diskussionen in den Internetmedien plötzlich Merkmale von Rassisten. Wir können in solchen Diskussionen live beobachten, wie Menschen unter Druck politisch nach rechts rücken und aus Trotz „Na, und?“ sagen. Es sind keineswegs nur die Populisten verantwortlich, und es ist auch nicht so, dass man durch andere gleichgeschaltet wird. Gleichschaltung bedeutet Selbstgleichschaltung und zu versuchen, andere gleichzuschalten. Dieses Spiel spielt man zu mehreren.


Man sollte sich nicht darüber wundern, dass die Freigeister nicht in Scharen aus dem Wald herausgelaufen kommen, in den man soeben “Faschist!” gerufen hat …


Mit der Ideologie verliert der Mensch an Individualität. Je massenwirksamer die Ideologie wirkt, desto mehr Menschen geben ihre Individualität auf und werden zur Copy. Obwohl die Ideologie die Identifikationsmöglichkeit bietet, geht doch mit zunehmender Singularisierung und zunehmendem Reduktionismus zwangsläufig Individualität verloren. Das Gleichschaltungsinteresse führt zur Bildung von Persönlichkeitsschablonen. Im Rahmen dieser Schablonen sind bestimmte Formen des Denkens nicht nur unerwünscht, sie sind auch unmöglich.


Dimension 3:


Copy <——————————————————> Individuum


An der Konstruktion von Gruppen beteiligt zu sein, liegt in unserer Natur. Und mit der Gruppe kommt immer der Gruppenkonsens und mit ihm zu einem gewissen Grad die Aufgabe/das Aufgeben der Individualität. In den Internetmedien können wir den Prozessen von Gruppenbildung(en) zusehen, erkennen, wie Einzelne ihre Selbstbeschreibungen formulieren, wie Gleichschaltungsrhetorik auf die bereits vorgegebene Struktur trifft, wie sich die Menschen in Grüppchen voneinander abgrenzen und wie sich Horden organisieren, die auf der Jagd nach Andersdenkenden jeden Sinn für Anstand und Respekt verlieren. Der Sog zieht mit, und man schaltet sich gegenseitig über Sprache gleich. Verdächtige werden aussortiert, Shitstorms losgetreten. Wir haben das erste Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, Ideologien und faschistische Bewegungen in Echtzeit im Entstehen zu beobachten. Hier lässt sich zeigen, dass nicht der Chefideologe die Massen macht, sondern wie jeder Einzelne zum Phänomen beiträgt und am Ende, wie Gustave Le Bon beschrieben hat, es die Massen sind, die dem Führer den Nimbus der Macht umlegen.


Individuen, Gruppen, ganze Gesellschaften sind im kontinuierlichen Identitätsbildungsprozess begriffen. Kopien funktionieren gut in gleichgeschalteten Gruppen, aber nur begrenzt in Teams. Teams sind darauf angewiesen, dass die Team-Mitlieder im Rahmen ihrer Aufgabenvorgaben ihre kreative Individualität einbringen. Individualität geht bei zunehmender Singularisierung und Komplexitätsreduktion verloren und mit ihr eben auch Kreativität und Innovation. Individualität geht aber auch bei hoher Pluralisierung und niedriger Bestimmtheit verloren. An seiner Individualität zu arbeiten bedeutet, an seiner Einzigartigkeit und an dem kontinuierlich Neuen zu arbeiten. Es bedeutet Gedanken zu denken, die niemand sonst denkt, Dinge zu sagen, die niemand sonst sagt. Es bedeutet, kontinuierlich zu forschen, Herausforderungen anzunehmen und auch zu formulieren. Es bedeutet, sich selbst im re-entry auf höherer Ebene zu re-produzieren und dabei Integrität zu wahren. Individualität ist nicht die pubertäre Abgrenzung von anderen, sondern die Summe des Andersmöglichen, die daraus entsteht, dass man an sich selbst den psychischen Anspruch stellt. Individualität hat immer etwas mit einem persönlichen Symbolsatz zu tun, während Kopien die Folge gleichschaltender und gleichgeschalteter Sprache sind. Alles, was man denken kann, kann man nur denken, weil man einen spezifischen Zeichensatz zur Verfügung hat. Alles, was man nicht denken kann, kann man deshalb nicht denken, weil es einem an Zeichen fehlt. Und die Zeichen, die ermöglichen, individuelle Perspektive zu generieren und zu beschreiben und tatsächlich Neues zu denken, kannst DU nicht kopieren, DU musst sie erfinden. Eine Gesellschaft, die versucht ihre Personen in Massenmedien als Kopien nachzudrucken, verliert ihre Kraft komplexe Probleme zu lösen, denn die erwächst erst aus der Fähigkeit der Menschen ihre Welt anders zu erleben, anders zu beobachten und anders in ihr zu handeln.


Digital geklont unterscheiden wir uns nur noch unwesentlich von Blattläusen und die bauen eben keine Mondraketen.


In Kürze in diesem Blog Teil 3 von Im Gleichschritt Marsch: Individualität und Globalisierung