Im Gleichschritt Marsch 1: Die Funktion der Ideologie

„Ideologie (französisch idéologie; zu griechisch ἰδέα idéa „Idee“ und λόγος lógos „Lehre“, „Wissenschaft“ – eigentlich „Ideenlehre“) steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für Weltanschauung. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf Karl Marx zurückgehend das „falsche Bewusstsein“ einer Gesellschaft bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen Wissenssoziologie jedes System von Normen als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden.“



beginnt Wikipedia die Erklärung des Begriffs der Ideologie und beendet die Einführung dann so:



„In der Wissenssoziologie hat sich Ideologie hingegen als Bezeichnung für ausformulierte Leitbilder sozialer Gruppen oder Organisationen durchgesetzt, die zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns dienen – ihre Ideen, Erkenntnisse, Kategorien und Wertvorstellungen. Sie bilden demnach das notwendige „Wir-Gefühl“, das den inneren Zusammenhalt jeder menschlichen Gemeinschaft gewährleistet. Dieser Ideologie-Begriff wird auch auf die Ideensysteme von politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien etc. angewandt.“



Ich halte es für wichtig, die Funktion von Weltanschauung und Ideologie genauer zu untersuchen, um herauszuarbeiten, welche Wirkmechanismen in Individuum und Gesellschaft den Übergang von Weltanschauung in Ideologie wahrscheinlicher machen.


Vorab: Nicht jede Ideologie ist gleich als gefährlich oder als kognitiv, emotional, sozial einschränkend einzustufen. Aus der Funktion der Ideologie ergibt sich ihre Gestaltungskraft für Individuum, Gruppe, Gesellschaft. Auch für Ideologien gilt Wilhelms Buschs Bemerkung zu Toleranz:



Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten.



Fange ich mit einem Begriff von Weltanschauung an:


Unter Weltanschauung fasse ich all diejenigen Modelle, die der Mensch zur Orientierung in Welt konstruiert und verwendet und welche die Grundlage seiner Weltkonstruktions(prozesse) bilden.


Welt begreife ich als System und Umwelt.


Dazu gehören: Innen- und Außenvorstellungen, Gefühle, körperliches Empfinden, Sinneseindrücke, physikalische, physiologische, soziale Umwelt/en, Denken, Erwartung und Realität der Sozialgemeinschaft. Psychen konstruieren Welt vermittels Zeichen innerhalb ihrer eigenen Semiosphäre (ein Satz, der einen eigenen Artikel wert ist).


Diese Modelle können bewusst oder unbewusst sein – ja, viele müssen sogar automatisiert ablaufen, sonst kämen wir zu gar nichts.
Die Motive zu ihrer Bildung sind Teil der Konstruktion: Sie werden selbst über Prägung und Konditionierung mitgeschaffen und spielen eine Rolle bei der Persönlichkeitsbildung. Zu ihnen gehören: Grundängste, Grund- und Sicherheitsbedürfnisse, individuelle Formen von Kreativität, kinästhetische, gefühlsmäßige, moralische Motivation und so weiter.


Konditionierung ist immer Selbst- und Fremdkonditionierung.
Beim Prägungsbegriff tut man gut daran, darüber nachzudenken, was Autopoiese bedeutet …


Zusammengefasst:


Die Funktion der Weltanschauung ist die Konstruktion von und Orientierung in Welt, und die Konstruktion von und Orientierung in Welt ist immer Komplexitätsreduktion.


Und mache ich mit dem Begriff der Ideologie weiter:


Weltanschauung findet nicht ohne Störung und ohne Feedback aus Richtung der Umwelt/en statt. Die Evolution der Psyche ist eingewickelt, verwickelt, sie co-evolviert mit Physis (Körper und physikalische Umwelt/en) und Sozialsystem (Gesellschaft/en). Sie ist immer interaktiv, kommunikativ, auch wenn sie für Psyche immer nur im eigenen Zeichenraum stattfindet. Evolution ist keine Leiter, sondern eine interaktive Spirale aus Lebensform(en) und Umwelt(en) und Umwelten und Lebensformen.


So, wie Gesellschaft das Individuum zu konditionieren versucht, leistet umgekehrt das Individuum als Mitglied von Gesellschaft seinen Beitrag zur Konditionierung. Für Orientierung ist wichtig, dass sie bestätigt wird; und in komplexen sozialen Umwelten bedeutet Bestätigung die Zustimmung möglichst vieler oder zumindest möglichst für den Einzelnen wichtiger Personen, Personenkreise, Gruppen. Dazu kommunizieren wir nicht nur mit realen Anderen, sondern auch mit der Gesellschaft in unserem Kopf. Konditionierung ist ein soziales und ein psychisches Phänomen.


Das soziale Umfeld bekräftigt die Haltung des Individuums oder lehnt sie ab, und das Individuum legt sein Handeln bereits so an, dass es die Zustimmung anderer erfährt. Das ist für überlebenssichernde Orientierung notwendig – umgekehrt die Fähigkeit dazu, eigene Entscheidungen zu fällen, aber auch. Die Bestätigung/Bekräftigung kann passiv oder aktiv erworben werden, die Mittel reichen von der einfachen Pression über beispielsweise freundlichen oder unterwürfigen Tonfall bis hin zu Zwang und roher Gewalt. Menschen, die nur eigene Entscheidungen fällen, gibt es genauso wenig wie Menschen, die nur Entscheidungen fällen, denen andere zustimmen. Wobei man natürlich zugestehen sollte, dass der Mensch, aus konstruktivistischer Perspektive betrachtet, immer nur eigene Gedanken denkt und immer nur eigene Entscheidungen fällt. Leben wir mal mit der Polysemie des Problems – es steckt ein interessantes Spannungsfeld darin.


Zusammengefasst:


Ideologien sind die Weltanschauungen, deren Funktion die Gleichschaltung und deren Leistung die Beruhigung von Sicherheitsängsten ist.


 Dimension 1


Weltanschauung/en <——————————————————> Ideologie


Für das Überleben des Individuums und des Stamms ist wichtig, dass im Fall der akuten Bedrohung für alle eine gewisse (auch hier ist die Mehrfachbedeutung Absicht) Gleichschaltung des Handelns erreicht wird. Umgekehrt ist es für das Überleben der Art aber notwendig, dass sich Individuen ausbilden, die Neues einführen. Würden alle Löwen auf die gleiche Art jagen, reichte ein einziger fataler Fehler in ihrem/ihrer Jagdstil/Jagdmethode, um die ganze Art zu gefährden.


Konservativismus und Gleichheit des Verhaltens sind für Arten, Individuen und Gesellschaften genauso überlebenswichtig wie Progression, Individualität und Kreativität.


Der Übergang von Weltanschauung zu Ideologie ist kein abrupter, kein distinkter. Vielmehr handelt es sich um eine Dimension mit fließenden Übergängen, mit situativen Übergängen, mit sich verschiebenden Übergängen und das nicht nur im Diagramm, sondern auch in der gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Entwicklung. Auch ist Weltanschauung nicht gleich Weltanschauung und Ideologie nicht gleich Ideologie. Und was in dem einen Kontext Ideologie ist, kann in einem anderen Weltanschauung sein.


Doch je ideologisierter Mensch und Gesellschaft, desto rigider die Reaktionen auf Umweltveränderungen und Störungen. Die Ideologie tendiert in Richtung Singularisierung, die Weltanschauung in Richtung Pluralisierung. Je mehr sich die Ideologie extremisiert, desto weniger Sinn für Kontingenz hat sie.


 Dimension 1


<- pluralisierend – – – singularisierend ->


Weltanschauung/en <——————————————————> Ideologie


Dabei kann die Ideologie alles Denkbare zur Grundlage nehmen. Welche Werte konditioniert werden sollen, das ist individuell und gesellschaftlich sehr unterschiedlich. Welche aber am Ende für Populisten dazu taugen, als Machtkonstruktionsmittel eingesetzt zu werden, entscheidet der Strom des Schwarms, die Masse, der Mensch der Masse. Und es ist auch der Schwarm, der darüber entscheidet, ob und wie er sich hinter den Populisten stellt, wie es der Einzelne ist, der darüber entscheidet, ob er bereit dazu ist, die Extremisierung mitzumachen und sich dem zunehmenden Druck, der durch die Bündelung der Anhänger entsteht, zu ergeben oder zu widersetzen.
Dabei muss sich zu widersetzen kein Zeichen für ausgeprägte Individualität und ausgeprägten Willen oder ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit sein – es kann sich einfach um einen Fall von nicht passenden Werten handeln, so dass die Zustimmung nicht erfolgt … und/oder um einen Fall von Einbindung in eine andere Art von Ideologie und damit zusammenhängender Gruppe … und/oder der Gruppendruck war einfach noch nicht hoch genug … Man darf ruhig vermuten, dass die Wahl der Werte für den Extremisten eher eine untergeordnete Rolle spielt. In welcher Gruppe er sich wohl und sicher im Wir fühlt, hat mehr mit Konditionierung und der Frage nach der Unsicherheitsabsorption zu tun als mit ausgeprägtem Sinn für gerecht oder ungerecht, Kultur oder Wert.


Die Werte, die sich im Einzelnen, der Gruppe, der Kultur nicht durchsetzen können, werden im Rahmen der Ideologie häufig als fremdartig, schädlich, falsch, verrückt oder sogar feindlich empfunden, angesehen und konditioniert.


Grundwerte von Ideologien sind die Werte, die eine Gesellschaft oder Subgesellschaft als Minimalkonsens anbietet und deren Angebote leicht viral werden können. Sie können hoch differenziert sein, wie man am Marxismus-Leninismus erkennen kann, aber um sie in die breite Masse zu transportieren, brauchen sie triviale Andockmechanismen an das Bedürfnis Sicherheitsängste zu beruhigen und an das Bedürfnis sich selbst und andere gleichzuschalten. Das Konglomerat der Werte, Ideen und Anschauungen der Ideologie bildet die Philosophie der Ideologie, die Lehre.


Dimension 2


Komplex <————————————————————–> Reduktionistisch


Je komplexer die Umwelten für das Empfinden des Einzelnen sind, desto wahrscheinlicher ist der Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie. Das gilt umso mehr, je weniger der Einzelne darauf vorbereitet ist, mit Komplexität umzugehen, sie auszuhalten, auch die Überforderung einfach mal zu akzeptieren und zu schauen, wohin sie führen mag.


Je höher das Kontingenzbewusstsein des Einzelnen, desto wahrscheinlicher die Pluralisierung der Weltanschauung. Je niedriger, desto singularisierender die Ideologie.
(Dabei ist es zu plump, in Anhängern von Ideologien nur Menschen zu sehen, die Sicherheitsängste haben, bzw. die Sicherheitsangst an sich abzuwerten – sie hat Sinn und Funktion. Auch Fragen zu stellen kann Menschen dahin führen, sich einer ideologischen Bewegung anzuschließen. Allerdings hat die Ideologie die Neigung, Fragen zu beantworten, anstatt das Fragen zu motivieren, so dass sich dann die Frage stellt, wie groß Mut und Sinn zur Frage, zur Offenheit und zur Unbestimmtheit, die in alles Bestimmte involviert ist, im Einzelnen sind, der sich jetzt nicht nur gegen sich selbst und seinen Willen zum Wir entscheiden muss, sondern auch gegen die Gruppe, in die er konditioniert und konditionierend eingewickelt ist und die eine emotional pressierende Sprache spricht, an die er sich angepasst hat und auf die seine Entscheidungs- und Selbstbeschreibungsautomatismen antworten.)


Komplex ist ein Sachverhalt immer dann, wenn nicht alle Elemente dieses Verhalts gleichzeitig mit allen anderen relationiert werden können.


Kontingent ist etwas dann, wenn es weder notwendig noch unmöglich: wenn es auch anders möglich ist.


Der Wille gleichzuschalten ist Teil des Willens zur Macht über sich selbst und über die eigenen Hoheitsgebiete – oder anders, Teil des Willens zum symbol-manipulativen Umgang mit den verschiedenen materiellen und geistigen Freiheitsgebieten. Er ist nicht per se verkehrt, er liegt in der Natur des Menschen. Sich in komplexen Umwelten zu orientieren, verlangt, Entscheidungen zu fällen. Sich in komplexen Gesellschaften zu orientieren, verlangt, sich selbst an andere anzupassen, aber auch andere zur Anpassung zu motivieren.


Der Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie ist der Übergang von der einfachen Orientierung hin zu einer mit Pressionen, die potenziell gewalttätig werden können. Die Pression ist immer der Teil der Mitteilung, der die Annahme der Kommunikation und der Mitteilung wahrscheinlicher machen soll.


Der Übergang ist fließend, und die Motivation zur Ideologie lässt sich als faschistoider Impuls begreifen.


Den faschistoiden Impuls schlage ich als harten Begriff vor, um sich der Problematik dieses Mechanismus im Einzelnen und damit in sich selbst bewusst zu werden. Er bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich Faschisten sind, aber er bedeutet auch nicht, dass der Faschismus vom Himmel fällt und nur die anderen trifft.


(Der Widerspruch zwischen dem fließenden Übergang und dem harten Begriff ist interessant genug, um länger darüber nachzudenken, und vielleicht fällt dem einen oder anderen meiner Leser an dieser Stelle auch auf, dass der faschistoide Impuls paradox ist …)


Das Wort „fasces“ (Plural zum Singular „fascis“) stammt aus altrömischen Zeiten, in denen „Fascis“, lat. für „Bündel“, ein Bündel von Ruten war, die vor Amtsträgern hergetragen wurden und mit denen man die Massen teilte, um den Weg zu bereiten. Der Kerngedanke war vermutlich der, dass mehrere Ruten zusammenzubinden sie weniger leicht brechen lässt. Auf das Prinzip der fasces hatten sich im 19. Jahrhundert Arbeiterbewegungen berufen und sich „fasci dei lavoratori“ oder „fasci siciliani“ genannt. Später wurde der Begriff politischer und gelangte dann unter Benito Mussolini erstmals zu internationalem Ruhm (Quelle: Wikipedia).
Der Begriff „Faschist“ wird heute weitestgehend dazu verwendet, diejenigen auszugrenzen, deren Bündelung einem nicht gefällt.


Es ist dieser Impuls zu bündeln, den Weg zu bereiten und die Massen zu teilen, um den es bei der Ideologie geht.


Er macht sich in der abgrenzenden Rhetorik des Ideologen bemerkbar, wie er „klare Fronten“ schafft, vermittels derer er sich selbst definiert.


Und je mehr gebündelt wird, desto mehr verliert die Ideologie an Differenzierung und an Anders-Möglichen, an Kontingenz. Sie verliert an Differenzierung, weil sich die Massen an ihr organisieren, und aus dem gleichen Grund verliert sie an Kontingenz, denn wenn sich viele Menschen über ihre Ängste einigen müssen, müssen die Abgrenzungen immer radikaler werden.


So grenzt sich Ideologie gegen Ideologie ab, ganz besonders aber gegen pluralistische Dimensionierung und Differenzierung.


_____________________________________________


Fassen wir bis hierhin zusammen:


Für ein umfassenderes Verständnis der Ideologie ist es wichtig, sich anzusehen, wie Menschen Welt gestalten/konstruieren/erschaffen/begreifen.


Die Orientierungsfunktion der Weltanschauung und die Gleichschaltungsfunktion der Ideologie geben uns Aufschluss darüber, dass die Ideologie an sich nicht von einigen Wenigen an die Massen herangetragen wird bzw. dass nicht einige Wenige die Massen hinter sich bündeln – das ist nur die halbe Wahrheit (und sie ist obendrauf noch viel zu bequem). Es ist der Wille zur Gleichschaltung im Einzelnen, der einen akkumulierenden Beitrag zur sich durchsetzenden Ideologie leistet, und es ist der Wille der Masse, der dem Führer den Nimbus der Macht verleiht. Der Populist hat keine Macht, und er kann nur die Knöpfe drücken, die diejenigen, die ihm zu folgen bereit sind, ihn drücken lassen.


(Hierzu ein Gedanke, der interessant genug ist, um ein Weilchen darüber zu kontemplieren:
Wenn wir an dieser Stelle denjenigen, der dem Populisten gedankenlos folgt, als kindisches und fremdreferenzielles Wesen betrachten, das keine Verantwortung für sein/ihr Handeln trägt und dann sehen, wie groß die Zahl dieser Einzelnen in der Masse werden kann, was bedeutet das für Demokratie? Müssten wir in dem Fall getreu dem Motto „Wer A sagt, der muss auch B sagen“ nicht gleichfalls feststellen, dass Menschen wählen, die keine Verantwortung für ihr Denken und Handeln tragen und wäre es dann nicht gleich sinnvoller, sie wie Kinder zu behandeln, die noch nicht reif sind für den demokratischen Prozess? Was geschieht dann mit dem Gedanken des mündigen Bürgers? Und wer entscheidet am Ende darüber? Oder ist es nicht viel sinnvoller, geistig hinreichend gesunde erwachsene Menschen als eigenverantwortlich und als selbständig denkende Wesen zu begreifen, die wir auf ihre Eigenverantwortlichkeit auch ansprechen können, wie wir ihnen zutrauen, über das Schicksal unseres Landes, Europas und irgendwann vielleicht der ganzen Welt zu entscheiden? Ich persönlich finde diesen Gedanken sehr viel reizvoller, als den, von einer Masse steuerbarer Minderbemittelter auszugehen, die keinerlei Verantwortung für ihr Leben und das Weltgeschehen tragen können, weil sie dazu angeblich nicht fähig sind.)


Zurück zum Thema: Tatsächlich kann jeder in sich den (keineswegs gleich dysfunktionalen) Wunsch erkennen, die eigene Weltanschauung durch andere bestätigt zu sehen, und es ist dieser Wunsch, der unter bestimmten psycho-sozialen Umständen in Richtung eines Gleichschaltungswillens entgleisen kann. Diese psycho-sozialen Umstände, an deren Mitgestaltung jeder beteiligt ist, sind es, die auf ihre pathologische Struktur hin untersucht werden müssen.


Der faschistoide Impuls wird nicht durch den Populisten in die Menschen, die ihm folgen, hineingelegt, sondern er ist (als die Gesellschaft und Welt um einen herum gestaltender Impuls) bereits im Menschen angelegt. Er ist ein Drang zur Macht, dem jeder nachgeben kann und der, wie man in den Internetmedien an der Rhetorik weiter Teile der Bevölkerung erkennen kann, auch breitflächig genutzt wird.
Durch aufmerksame Beobachtung der Kommunikation in den Internetmedien erkennt man, wie sich durch die Popularisierung und Ideologisierung immer mehr ein Tribunal- und Volksgerichtshofs-Denken breitmacht und zunehmend akzeptiert wird. Dazu gehört auch, dass Demokratie immer mehr so verstanden wird, dass Mehrheitsentscheidungen besser sind als vernünftige Entscheidungen, bzw. umgekehrt, dass wenn Viele für etwas sind, das auch vernünftig sein muss. Außerdem gehört die Frage dazu, welche Art von Politiker sich in so einem System aufbauen bzw. halten kann …
Wer die Internetmedien nur als Plattform oberflächlicher Kommunikation und eitler Selbstdarstellung begreift, übersieht, was in ihnen passiert und welche Gefahr für die Gesellschaft davon ausgeht. Wir sehen dort live und unter der Lupe, wie sich Ideologien entwickeln und wie der faschistoide Impuls wirkt, sich verstärkt, abgrenzt und Masse macht.


Ob man dem faschistoiden Impuls nachgibt, warum man ihm nachgibt und ihm nichts entgegenzusetzen vermag, mit welcher Funktion man ihm folgt, liegt am Einzelnen und an der Gesellschaft, und es ist Aufgabe der Wissenschaft, hier Aufklärung zu betreiben und Mittel zu ersinnen, dem Einzelnen Tools an die Hand zu geben, die Komplexität, die mit Technologie und Globalisierung kommt, adäquat, zeitgemäß und ohne dem faschistoiden Impuls nachzugeben zu bewältigen.


Die Massen werden nicht verführt, sie organisieren sich selbst. Stimmt das Angebot und ist bereits der Drive da, nimmt die Zahl jener, die mitmachen, immer mehr zu. Auch das ist Teil der Gleichschaltungsfunktion, dass sie immer mächtiger wird, je mehr Menschen bereits in die gleiche Richtung marschieren. Dann können nach und nach die Werte ihre Kraft verlieren, die wir sonst als grundlegend empfinden. So ist es möglich, Millionen von Juden zu vergasen, weil die akkumulierte Kraft des faschistoiden Impulses im Einzelnen nun in der Gesellschaft einen Eigenwert bildet, der auch alles Entsetzliche möglich machen kann, was im Rahmen der Philosophie der Ideologie mit ihrer Aus- und Abgrenzungswirkung denkbar ist.


Dabei spielt die Frage danach, welche Ideologie es denn sein wird, erst einmal keine Rolle – die Werte sind im Rahmen der Konditionierung austauschbar: Es geht vielmehr um die Befriedigung des Impulses selbst – und damit eben um die Beruhigung von Sicherheitsängsten. Mode kann Mittel des faschistoiden Impulses sein, Jugendlichkeitswahn, Veganismus … Tatsächlich können wir mit einem Blick auf die sich gegenseitig verhärtende Kommunikation in den Internetmedien erkennen, dass die Ideologie zur treibenden Kraft wird, sobald die Komplexität des Sozialsystems die Verarbeitungsfähigkeit des Individuums übersteigt, und als Wert ist alles geeignet, was dem Individuum dabei hilft Identität zu bilden. Hier wird die paradoxe Kraft der Identität sozial wirksam, so dass das, was das Individuum stabilisiert, gleichzeitig zum Instrument der Macht wird. Globalisierung ist langfristig nicht ohne Evolution der Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit des Einzelnen denkbar.


Während Weltanschauungen Komplexität rein zwecks Orientierung reduzieren, kommt bei Ideologien zunehmende Rigidität Umweltstörungen gegenüber hinzu: Die Komplexitätsreduktion wird an den Werten ausgerichtet, die Teil der Philosophie der Ideologie sind – und an den Ängsten, die beruhigt werden sollen. Aber: Diese Ängste sind bereits in die Philosophie gekleidet. Deshalb fürchtet der Pluralist die Flüchtlinge längst nicht so, wie es der Nationalist tut – sein Bedürfnis nach Beruhigung seiner Sicherheitsängste kann von einer anderen Ideologie beruhigt werden.


Weltanschauungen und Ideologien können beide hoch differenziert oder sehr trivial sein. Darauf kommt es nicht an, sondern auf die Funktion, die sie erfüllen.


Was ich hier vorschlage, ist ein Umdenken, ein erweitertes Denken, ein Denken, das den einzelnen Menschen und die Gesellschaft konstituierenden Prozesse miteinander verbindet. Warum, wann, unter welchen Bedingungen kann der Populist greifen – wie entsteht er überhaupt? Wer gibt dem Politiker die Macht? Wie organisieren Menschen ihr Miteinander? Wie verarbeiten sie Komplexität? Wie bilden sich Gruppen? Und immer wieder:
Was habe ich damit zu tun?



Stay tuned für Im Gleichschritt Marsch 2: Blattläuse bauen keine Mondraketen