Im Gleichschritt Marsch 3: Individualität und Globalisierung

Diesem Artikel gehen die folgenden voraus:



Im Gleichschritt Marsch 1: Die Funktion der Ideologie
Im Gleichschritt Marsch 2: Blattläuse bauen keine Mondraketen


 


Es ist mir ein Anliegen, Texte so zu schreiben, dass sie auf der einen Seite den Leser dazu motivieren, sich selbst am und im Gelesenen zu reflektieren, und dass sie auf der anderen Seite direkt veranschaulichen, wie die vorgestellten Methoden umgesetzt aussehen.


Die von mir beschriebenen individuellen und sozialen Prozesse und Mechanismen sind weder von mir noch von meinen Lesern getrennt. Es kann nicht Aufgabe einer (selbst)reflektierenden Systemik sein, nur die Erklärung zu liefern. Erklärungen bleiben bis zu einem gewissen Grad separiert vom Erklärenden und vom Erklärten. Systemik muss die von ihr vorgestellten innovativen Gedanken direkt auf sich selbst anwenden, sie für diejenigen, denen sie sich vorstellen will, aktiv angewendet veranschaulichen, die Angesprochenen sich auf sich selbst zurückwerfen helfen und ihnen so die Möglichkeit zum Re-entry schaffen.


texten auf diese Art steht gleich vor mehreren Herausforderungen. Eine ist, einfach genug zu bleiben, eine andere, die Komplexität zu reflektieren, die wir zu generieren auffordern, und eine weitere besteht darin, dass es/sie/er sich in sich selbst einwickeln sollte, um den vollen Reiz systemischen Denkens lebendig zu demonstrieren.
Wir müssen einfach bleiben, weil andernfalls die Chancen dazu, das eigene selektive Lesen zu erkennen, nicht besonders hoch sind. Wir müssen komplex werden, sonst dächten wir nicht systemisch.


Für Leser liegt die Herausforderung darin, sich auf Selbstreflexion einzulassen und dem Impuls, direkt in Kritik einzusteigen, erst einmal nicht nachzugeben. Wer gewöhnlich anspruchsvollere Texte meidet, kann sich vor das Problem gestellt sehen, dass ihm keine Beziehung angeboten wird, die es ihm/ihr erleichtert, das Dargebotene angenehm zu finden.


Bedeutungsdichte und Reflexionsforderung solchen textens geht über das Vielen vertraute Maß hinaus. Einige Leser werden das daran bemerken, dass sie den Text als zu selbstverständlich oder gar naiv empfinden, oder daran, dass sie sich vollkommen überfordert fühlen. So oder so: Aufmerksames, wiederholtes Lesen, das nicht davon ausgeht, gleich alles begriffen zu haben, und das die Inhalte auf sich selbst reflektierend anwendet, hilft dabei, mehr Gewinn aus unserer Interaktion zu ziehen. Außerdem hilft, sich kontinuierlich daran zu erinnern, dass das vorgeschlagene Modell kontingent und der systemische Texter sich dessen bewusst ist.


Hierin liegt die Möglichkeit im Anschluss kreative Diskussionsinseln zu formen, auf denen sich Beobachter/Akteure inhaltlich auseinandersetzen und am Modell prüfen, anstatt, wie in Symmetrische Konflikte vorgeführt, mit „Guck mich an, nicht Dich/Nein, guck mich an, nicht Dich“ die Chance zu gemeinsamer und sinnhafter und kooperativer und systemischer Betrachtung/Reflexion zu vergeben.


Ich habe im zweiten Teil dieser Miniserie auf eine Fähigkeit verwiesen, die zu trainieren ich für wichtig halte und die ich sowohl sozial wie auch psychisch als nützlicher denn „Intelligenz“ (und „Empathie“) einstufe: die Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit.


Ich hatte folgendes geschrieben:


Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit kann man an drei Merkmalen messen:


 



  1. Wie viele Dimensionen kann jemand unter Stress zur Bewältigung der Komplexität eines Themas, Sachverhalts, Problems heranziehen? Für jemanden, der alles mit dem Hammer bearbeitet, sieht alles wie ein Nagel aus.

     





  1. Wie differenziert sind die jeweiligen Dimensionen ausgearbeitet? Viele Dimensionen heranziehen, diese aber nicht hoch auflösen zu können, mag ein hohes Toleranzmaß mit sich bringen, führt aber nicht unbedingt auch dazu, dass man Bullshit erkennen kann oder Fehler in den Argumenten anderer (oder eigenen).

     



  2. Wie schnell kann der Betreffende dimensionieren und differenzieren? Temporeichtum der Dimensionierung und Differenzierung schafft einen gewaltigen Vorteil, wenn man unter Druck rasch Entscheidungen fällen muss. Unter Stress zeigt sich die Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit.

     




Dementsprechend mache ich hier einen Vorschlag zum mehrdimensionalen Begreifen des Themas und komplexeren Umgang mit Weltanschauungen und Ideologien.


Ich habe Weltanschauung und Ideologie einander gegenüber gestellt und gezeigt, dass eine Abgrenzung der einen von der anderen über die Leistung vorgenommen werden kann, die sie für Individuum und Gesellschaft erbringen. Ich habe auch dazu angeregt darüber nachzudenken, dass und wie situative, persönliche und gruppenspezifische Unterschiede zu beobachten unsere Einschätzung präziser und umfassender machen kann – vorausgesetzt natürlich, wir sind bereit dazu, eine solch komplexere Perspektive zu erforschen. Im Umgang mit dem Modell wächst nach und nach unsere Erkenntnis/Erfahrung, wie fließend die Übergänge von Weltanschauung zu Ideologie und von Ideologie zu Weltanschauung sich vollziehen/verwirklichen können.


Nach Konstruktion der Dimension Weltanschauung/Ideologie habe ich Möglichkeiten der Ausdifferenzierung der Dimension gezeigt: pluralisierend oder singularisierend. Was das anbelangt sollten wir auch feststellen, dass pluralisierend nicht immer gleich Weltanschauung bedeuten muss und singularisierend nicht immer gleich Ideologie.





Hierauf aufbauend konstruiere ich eine weitere Dimension: Komplex/Reduktionistisch und zur Spezifizierung unbestimmter/bestimmter.


Legen wir beide Dimensionen samt Differenzierungsideen übereinander und schaffen so Raum, um weitere Verbindungen in/nach den Dimensionen zu ordnen:





Und hieran anbauend stelle ich eine dritte Dimension vor, Copy/Individuum:


Mit der Ideologie verliert der Mensch an Individualität. Je massenwirksamer die Ideologie wirkt, desto mehr Menschen geben ihre Individualität auf und werden zur Copy. Obwohl die Ideologie die Identifikationsmöglichkeit bietet, geht doch mit zunehmender Singularisierung und zunehmendem Reduktionismus zwangsläufig Individualität verloren. Gleichschaltungsinteresse führt zur Bildung von Persönlichkeitsschablonen. Im Rahmen dieser Schablonen sind bestimmte Formen des Denkens nicht nur unerwünscht, sie sind auch unmöglich.



Wir haben das erste Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, Ideologien und faschistische Bewegungen in Echtzeit im Entstehen zu beobachten.


 



 


Erweitern wir unser Modell noch um ein Begriffspaar zur Ausdifferenzierung der Dimension Copy/Individuum: unbewusst(er)/bewusst(er).


 


So! Jetzt lassen sich Weltanschauungen und Ideologien auf eine Weise untersuchen, die den komplexen Problemen unserer Zeit gerecht wird und die die Motive, Merkmale, Herausforderungen an Individuum und Gesellschaft berücksichtigt. Wer sich nun nicht die Mühe geben will, Weltanschauungen und Ideologien dimensioniert und differenziert zu untersuchen, vertut wissentlich seine Chance darauf, die eigene Beteiligung am/im alltäglichen kleinen und großen Weltgeschehen zu erkennen.


 


Individuen, Gruppen, ganze Gesellschaften befinden sich kontinuierlich in Identitätsbildungsprozessen. Aber besitzen sie auch das Vermögen, dies bewusst zu reflektieren?


 


Menschen, die achtsam (selbst)reflexiv, das Thema reflektierend denken und sinnlich wahrnehmbar und operational beschreiben können, haben größere Chancen, höhere Komplexitäten zu bewältigen, pluralistisch integrierend Weltanschauungen zu untersuchen und umsichtig mit Ideologien umzugehen.


 


Wer bewusst das eigene Denken, Sprechen und Handeln überprüft und sich selbst hinterfragt, schafft die Voraussetzung dafür, Kontingenzbewusstsein zu entwickeln und auszubauen.


 


Dabei/dazu/während dessen/stets reflektierend die Frage zu stellen, welches Denken/Sprechen/Handeln unbewusster ablaufen kann/darf/sollte, welches ins Bewusste zurückgeholt werden muss, und sich zu erlauben, blinde Flecke zu realisieren und aus Fehlern zu lernen, macht den Unterschied zwischen mehr Individuum oder mehr Copy aus.


 


Kopien neigen eher zur Ideologie, Kopien neigen eher zum ideologischen Reduktionismus. Wo die Kopie zum Pluralismus auffordert oder zu höherer Komplexitätsbewältigung, liegt der Verdacht nahe, dass aus beiden Ideologie gemacht wurde. Doch sollten wir nicht jedes copyhafte Denken, Sprechen und Handeln als dysfunktional bewerten. Wir verdanken viele angemessene Reaktionen, die wir automatisch denkend, sprechend und handelnd zeigen, unserer (Selbst-)Konditionierung. Vieles Lernen läuft darauf hinaus, dass das Erlernte eines Tages automatisch auf- und abgerufen werden kann – so schaffen wir Raum, um noch mehr lernen zu können.


 


Aber man kann auch aus Individualismus eine singularisierende Ideologie machen. Und es wäre ein Leichtes, das Anliegen dieses Artikels zu verrenken und sich daraus dann eine Ideologie zu stricken. Dafür brauchen wir nur Gleichschaltungsinteresse. Auch wäre es nicht schwer, meine Arbeit reduktionistisch auszuwerten, indem man meinen Hinweis auf ein sinnvolles Bemühen um höheres Dimensionieren und Differenzieren ignoriert. Sie könnten auch nach dem Lesen auf weitere Bewusstheit und Reflexion von Denken, Sprechen und Handeln verzichten und den Inhalt reproduzieren, ohne ihn auf sich selbst anzuwenden. Wir könnten die Aufforderung dazu, die eigene Individualität in Frage zu stellen, ignorieren. Wir könnten glauben, dass nur wir echte Individualisten sind und die meisten Anderen nicht. Auch mit diesem Modell könnten wir nach denjenigen suchen, die genauso denken wie wir, und alle Anderen, die das nicht tun, als Kopien ein- beziehungsweise aussortieren. Nichts hindert uns daran auf selbstreflektierendes Denken zu verzichten – außer, wir wollen selbstreflektierendes Denken lernen und konsequent anwenden … Kopien, die sich selbst für Individuen halten, neigen genauso wie alle anderen Kopien dazu, andere (und sich selbst) weiterhin gleichzuschalten.


 


Die von mir vorgestellten Dimensionen lassen sich wunderbar aufeinander beziehen.


 


Schauen wir uns jetzt die drei Dimensionen mit jeweiliger Differenzierungsidee kombiniert an und versuchen wir uns darin zu erkennen, wo wir stehen … wie wir andere mit ihren Weltanschauungen und Ideologien und wie wir Weltanschauungen und Ideologien an sich einordnen:


 





Wie leicht geht es doch Vielen ohne solch ein Modell von der Hand, rechte und linke Ideologien trivial/problemlos voneinander zu trennen/scheiden … Wo eigentlich steht jetzt „die Ideologie“? Wie wollen wir zum Beispiel Leninismus-Marxismus einsortieren? Und wo packen wir das Ministerium für Heimat hin?!
Wenn wir einsortieren, können wir das noch so schnell und automatisch wie ohne das Modell? Oder müssen wir nun Kontexte berücksichtigen, Umweltbedingungen und damit auch Voraussetzungen, die beteiligte Individuen einbringen?


 


Wie sieht es mit möglichen Auswirkungen höherer Individualisierung auf linke Gesinnung aus? Auf rechte?


Und vielleicht die wichtigste Frage von allen: Wo stehe ich selbst, wenn ich Weltanschauungen und Ideologien einsortiere? Stehe ich bei jeder an derselben Position? Ordnen wir uns bei allen gleich ein? Oder verändert sich unsere eigene Haltung und damit Weltanschauung und Ideologie, unsere Fähigkeit komplex oder reduktionistisch zu denken, uns als Individuum oder als Copy auszuformen, mit dem Gegenstand unserer Betrachtung? Was hat/haben die Ideologie oder der Ideologe, die/den ich gerade bewerte, mit meiner eigenen Weltanschauung oder Ideologie zu tun?



Tipp: Selbst Dimensionen entwickeln und über (Aus)Differenzierungscodes nachdenken und sich mit folgenden Fragen beschäftigen: Was kann ich tun, um in der Gesellschaft einen bewussten Beitrag zu leisten? Wie kann ich zu pluralistischem Denken motivieren, ohne dabei Vorteile singularisierenden Denkens auszuschalten? Wie kann/können ich/wir höhere Komplexitäten tolerieren und verarbeiten? Wie lässt sich Mut zum Unbestimmten vermitteln, ohne dass dabei Klarheit verloren geht? Was fördert bewusstes Denken und Handeln und wie können wir kompensieren, wenn wir dabei erst einmal im Tempo nachlassen?


Welches Verhalten müsste ich selbst zeigen, um in meinem persönlichen Umfeld dazu anzuregen, ein weltanschaulich offenes Vorgehen der ideologischen Engführung vorzuziehen? Wie können Menschen komplex denken, wenn funktionaler, oder reduktionistisch, wenn sinnvoller? Was brauchen Menschen, um Mut zur Individualität zu zeigen, anstatt sich in die Copy zurückzuziehen? Welche Atmosphäre sollten/müssen/können wir schaffen, um der Enge und Dunkelheit ideologisch singularisierender, reduktionistischer, Kopien schaffender Realitätstunnel zu entkommen?





Globalisierung bezeichnet das Wachsen der Mittel und Möglichkeiten mit jedem anderen auf diesem Planeten zu kommunizieren.




Wir haben die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen und sind täglich dabei, sie zu optimieren. Damit zu leben, hat Vor- und Nachteile. Mit der Globalisierung kommt das Problem höherer Komplexitäten und weiterer Kontingenzen. Mit ihr kommt die Freiheit, sich von territorialem Denken zu lösen, sich in größeren Räumen zu orientieren, Freundschaften auf dem ganzen Globus zu schließen und täglich erneuern zu können. Mit ihr kommt die Angst davor, vom Fremden überrollt zu werden.


An steigender Komplexität und weiterer Kontingenz scheitern singularisierende Ideologen, reduktionistisch denkende Menschen und Kopien. Und Komplexität und Kontingenz können Menschen, die nicht gelernt haben, wie sie mit ihnen auch dann noch entspannt umgehen können, wenn ihnen alles zu viel wird, schnell Anlass dazu liefern, singularisierende Ideologien zu konstruieren, reduktionistisch zu denken, sich selbst zur Kopie zu machen und zu versuchen andere gleichzuschalten.


Singularisierende Ideologien, ideologischer Reduktionismus, Gleichschaltungsmanöver und copyhaftes Denken und Handeln sind der Offenbarungseid unserer Gesellschaft im Angesicht von Globalisierung!


Ich habe über Ängste gesprochen und über Potenziale. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die Frage nach den Fähigkeiten zu stellen, die Mensch und Gesellschaft benötigen, um Globalisierung als Chance nutzen zu können und nicht noch einmal in ein evolutionär älteres Programm zurückzufallen. Wie können wir Menschen helfen, denen es angesichts des Empfindens, von zu viel Andersdenken(den), zu viel Information, zu viel Komplexität, zu viel Kontingenz überwältigt zu werden, einfach nicht gelingt, den Sprung in die neue Zeit zu machen?


Kann Bildung das Problem lösen?


Ja und nein.


Ein Mehr an Bildung wird das Problem mangelnder Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit nicht lösen. Und vor allem wird ein mehr-Desselben das Problem mangelnder Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit verstärken.


Menschen sind nicht nur komplexitätsüberschüttet, weil man ihnen zu viel Informationen präsentiert … Sie sind komplexitätsüberschüttet, wenn sie nicht erkennen/wissen (können), welche Informationen für sie wertvoll sind und welche nicht, welche Information sie als Individuen/Individuum in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie weiterbringt und welche nicht, welche Information ihnen dabei hilft, höhere Komplexitäten zu verarbeiten und welche nicht. Sie sind komplexitätsüberschüttet, wenn sie nicht lernen, in der jeweiligen Situation temporeich – schnell und präzise – zu dimensionieren und zu differenzieren.


Hierauf kommt es an:


 



  • Achtsam reflexiv denken zu können,

     



  • themenorientiert zu kommunizieren/reflektieren und

     



  • sinnlich wahrnehmbar und operational zu beschreiben.

     




Machen wir uns nichts vor: Über diese Fähigkeiten verfügen die meisten von uns nicht. Einige davon besaßen wir vielleicht als Kinder, aber dann passierte uns Gesellschaft und nach und nach verlernten wir sie wieder. Wir haben die Fragen verloren und das Denken und Handeln in operativen Zusammenhängen … systemisches Denken und Handeln/Erleben eben. Außerdem meinen viele auch noch, wenn sie mit Schule, Ausbildung, Studium fertig sind, sind sie fertig. Wir haben verlernt Werdende zu bleiben und sind statt dessen zu Seienden geworden, die sich in geistigem Flatland bewegen und Territorien verteidigen – inklusive ihres So-Seins. So geht Komplexitätsbewältigung nur unter äußerst erschwerten Bedingungen … über die Freude an der Kontingenz, an der Herausforderung anders zu denken, sich anders wahrzunehmen, dürfen wir in jenem Reich gar nicht sprechen.


 


Einigen könnte beim Lesen meiner Artikel aufgefallen sein, dass sie höheren Komplexitäten und reflektierendem Schreiben angemessenes Lesen nicht gelernt haben. Sie haben statt dessen etwas anderes gelernt: Dass es „da draußen“ angeblich Wissen gibt, das sie lernen müssen. Und sie haben gelernt, wie sie so selegieren können, dass es ihnen dabei halbwegs gut geht. Anstatt sich fließend verwickelt im texten des anderen zu reflektieren, degeneriert aktiv tätiges, lustvolles Forschen zum leidig abzuspulenden Studienobjekt, werden aus den spannenden Weiten des Universums des anderen Steine, die man mühsam in sein Gehirn schleppen muss, um sie dort in Regalen abrufbar zu verstauen, damit man schlau aussieht. Natürlich wehren sich die meisten dagegen, sobald sie keiner mehr dazu zwingen kann, mit diesem Wahnsinn weiterzumachen. Natürlich haben wir deshalb ein massives Problem mit Bildungsverweigerung und Bildungsverweigerern. Natürlich will sich niemand wirklich auf diese gruselige Art und Weise abmühen, und natürlich wird so aus Wissen ein Statusobjekt.


Ich kritisiere diese Verunbildung, Verunstaltung und Verunreinigung angeborener menschlicher Begeisterung für alles Neue mit der Berechtigung der Betroffenen. Auch bei mir löst der Gedanke, etwas „da draußen“ in mich hineinschleppen zu müssen, um so in der Gesellschaft zu zeigen, dass ich etwas „weiß“ keine große Begeisterung aus. Noch weniger begeistere ich mich dafür, wenn ich erkenne, dass wir uns so gar nicht denken, meinen, konstruieren. Ich denke, ich schaffe, ich schöpfe, ich mache, ich konstruiere, ich konstituiere. Alles, was ich denke, denke ich – niemand sonst. Wird meine innere Reflexion, und dass ich selbst aktiv und lebendig an meiner Wissenskonstruktion beteiligt bin, nach hinten gedrängt, werde ich mir ja selbst schwer.


Es macht Spaß Welt zu erforschen, aber festgeschnallt am Kinderstuhl vorgefertigter Konzepte, verliert die Sache zunehmend an Reiz … erst recht, wenn alle die richtige Antwort erwarten und nicht die eigene(n) und/oder mehr(eren) passenden …


Menschen, die lernen müssen statt wollen, lernen vor allem schnell weniger zu lernen … und drohen am Ende damit das lernen wollen gänzlich wegzurationalisieren.


Ein sich globalisierendes Bildungssystem, das Menschen auf Broterwerb/Konsum/Lohnarbeit/Luxus vorbereitet, nicht aber auf ein Leben als freie und selbstbewusste, kreative Individuen, denen klar wird, dass sie gewaltige Potenziale in sich tragen, die nur darauf warten, von ihnen erforscht und in die Welt gebracht zu werden, (re)produziert Menschen, die singularisierend denken, die reduktionistisch denken und die zunehmend blinde Flecke ausbilden müssen, da sie nicht lernen sich zu ändern und mit Kontingenz, Komplexität und Globalisierung umzugehen.


In der Sprache, die diese Welt versteht, gesagt: So macht man Chef-Ideologen, Populisten, Reduktionisten, Vereinfacher.


Was ursprünglich floss, im kontinuierlichen Werden begriffen war, was forschte, schuf, wurde verdinglicht. Man hat, man ist, aber man wird nicht mehr, denn „man“ kann nicht werden, man existiert nicht einmal: Man hat mit mir nichts zu tun. Man kann sich nicht verantwortlich machen, man kann nicht konkret Bezug nehmen, man kann nicht konkret denken und auch nicht konkret handeln. Das, was anders IST, IST im Zweifelsfall Bedrohung. Mich wundert nicht, wenn Menschen, die so empfinden, keinen Platz für Andersdenken(de) haben und den Gedanken unerträglich finden, sie selbst könnten sich anders erschaffen. Wenn die eigene Persönlichkeit zum Ding geworden IST, dann wird Globalisierung zum ernsthaften Problem.


Auch für Andersdenken(de) gibt es nur unter Gleichen Raum. Nur der freilassende Denker hat Platz in seinem Kopf und in seinem Herzen für pluralistisch denkende Individuen. Den Platz, den sie/er benötigt und der ihn/sie auch dazu ermuntert, den Mut aufzubringen, sich höheren Komplexitäten zu stellen und dem individuellen Weg zu folgen. Zur Zeit leben nur Wenige, die solche Herausforderungen begrüßen, die spielerisch mit ihnen umzugehen vermögen und die so glücklich sind, Menschen in ihrem Leben zu haben, die sie darin unterstützen. Viele behaupten es von sich … und bauen doch keine Mondraketen … jedoch wir kennen noch mehr, die versuchen andere daran zu hindern …


Von Seiten der Staaten dürfen wir keine umfassenden Bildungsreformen erwarten – jedenfalls nicht in der benötigen Form. Warum? Staaten kommen mit den technologischen und informationellen Entwicklungen nicht mit, und sie können das auch nicht einfach so ändern. Der Staat kommt samt seiner Politik aus einer anderen Zeit. Das können wir jeden Tag beobachten.


Angebote von außerhalb werden den Unterschied machen. Sie zu erkennen und zu fördern, muss sich jeder Freidenker zur Aufgabe machen, der Sinn darin sieht, anderen Menschen dabei behilflich zu sein, ebenfalls sie selbst zu werden, selbst zu denken, eigenverantwortlich und kreativ zu leben. Veränderung geht nicht ohne Bündelung von Kräften – woran wir einen Nutzen des Gleichschaltungsimpulses erkennen können:


Motiviert sie zur Utopie! Schaffen wir die Voraussetzungen!
Fördern wir das, was wir brauchen!“


Gesellschaften, deren Utopien verstaubt vor sich hinmodern, verwalten sich nur noch. Systemik, die die Innovation nicht mehr fördert, wird zur Systemarchäologie, zur Systempathologie. Sie geht einher mit einer Gesellschaft und ihren Bürgern, die Herausforderung(en) zu meiden begonnen haben. Wir müssen Bildungsverweigerung, Lernverweigerung und Innovationsverweigerung als Symptome einer degenerierenden Gesellschaft ernst nehmen. Und erst recht müssen wir es ernst nehmen, wenn Menschen in unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie wieder damit beginnen zu versuchen, anderen die Innovation zu verunmöglichen, unzugänglich zu machen, zu verweigern, oder gar diejenigen verfolgen, die Innovation hervorbringen.


Motivieren wir umzudenken:




  1. Das staatliche Bildungswesen muss seine Beschränkungen erkennen. Und Bund und Länder und Kommunen sollten damit beginnen, innovativen Denkern und Forschern, die aus Richtung Wissenschaft, Technik und Wirtschaft progressive Vorschläge machen, zuzuhören und sie zu fördern. Wie auch jene Denker und Forscher das Zuhören natürlich immer wieder erneut lernen müssen, denn sie laufen stets Gefahr, sich auf sich selbst auszuruhen, die Innovation nicht mehr zu erkennen und den evolutionären Sprung zu verpassen. Es geht längst nicht mehr um linearen Fortschritt, sondern um spiralförmigen, nach unten integrierenden, nach oben reichenden.




  2. Wir brauchen ein Bildungs-Be-Greifen, das Menschen nicht nach der Menge erworbenen Wissens misst, sondern das Bildung als Ermächtigung zur Selbstbildung fasst und das es Kindern, Studierenden und Erwachsenen ermöglicht, sich zu erlauben, Kontingenz und Komplexität zu begrüßen. Dazu gehört ein Verständnis von Intelligenz, in das der Gedanke Eingang findet, dass intelligentes Verhalten nicht nur bedeutet, Probleme zu lösen, sondern auch neue, herausfordernde und komplexe Probleme zu kreieren. Hierfür müssen komplex diversifizierende/integrierende Plattformen geschaffen werden, die wir gleich zukunftsweisend und global angelegen.




  3. Die Qualität der Bildungsleistung muss auch daran gemessen werden, wie stark sich die Gesellschaft und wie stark sich das Individuum in den ideologischen Streit verwickelt bzw. wie frei, bewusst und kreativ sie/es/er mit komplexen Herausforderungen umzugehen versteht.



  4. Wir müssen vom reinen Was-Lernen auf fragendes WIE lernen umstellen. Der systemisch-konstruktivistische Ansatz liefert das gedankliche Grundgerüst für adäquates und funktionales Prüfen und Umsetzen der Methoden, die wir für sinnvoll und zielführend erachten. Wir wachsen in eine Zukunft hinein, in der ein Großteil der Berufe und damit Arbeitsplätze, die uns heute vertraut sind, verschwinden werden. Ihre Bedingungen und der zum Scheitern verurteilte Wunsch sie zu erhalten schaffen gegenwärtig Mindsets, deren Kompatibilität zur kommenden Zukunft ich nicht allein für fragwürdig halte, sondern von denen ich erwarte, dass das mit ihnen kommende Konfliktpotenzial zur Übersteuerung führen wird. Wir benötigen dringend Methoden, Tools, Mittel und Möglichkeiten, um allen Menschen dabei behilflich zu sein, sich auf diese Zukunft gesund und motiviert einzustellen, damit sie darin aktiv, persönlich, sozial gewinnbringend und lebendig wirken können.


Schließe ich reflektierend mit folgender Behauptung:


Reflexiv, reflektierend, hoch dimensioniert und differenziert denken und kommunizieren zu können, formt grundlegende Voraussetzungen dafür, in hoch komplexen und sich schnell entwickelnden Gesellschaften gesund zu bleiben, und sich begeistert, willentlich und kreativ einzubringen. Wer das in Zeiten der Globalisierung nicht lernt, läuft Gefahr mit unterkomplexen Lösungen Anforderungen zu begegnen, die er wegen seiner Weigerung, vorhandene funktionale Methoden zu nutzen, noch nicht einmal annähernd adäquat beschreiben kann.


Wir stehen nicht nur vor der bequemen Aufgabe, unser Leben mit noch mehr bedienerfreundlicher Technologie angenehmer zu gestalten, wir stehen vor dem überlebenswichtigen Problem, wie wir mit den technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, mit künstlicher Intelligenz, mit global werdendem Geschehen mitwachsen können.


Wer die Frage nach unserem eigenen Wachstum aus der Gleichung herauszunehmen versucht, ignoriert die Gefahr, dass wir drohen in eine Gesellschaft auszulaufen, in der soziales und wirtschaftliches Wachsen, wissenschaftliche und technologische Innovation nicht mehr willentlich ermöglicht werden können, weil wir verabsäumt haben, an der richtigen Stelle anzupacken und uns selbst herauszufordern. Ich erinnere: Wir sind schon einmal an Globalisierung gescheitert. Das hat uns in den 1. und dann – noch besoffen von der vorherigen Selbstverblödung – in den 2. Weltkrieg geworfen.


Begreifen wir den ideologischen Streit als Alarmsignal.


Unsere Aufgabe ist klar: Helfen wir uns selbst dabei, freier zu denken und zu handeln/erleben, damit alle lernen können, eine Faszination für die Herausforderungen und die Chancen zu entwickeln, die mit der neuen Stufe der Menschheitsentwicklung kommen, die zu nehmen wir kürzlich gemeinsam initialisiert haben: Wirklichkeitsemulation.


… und die wird das Thema meiner nächsten Artikelserie hier in    s y s t e m z e i t


stay tuned, wir sind noch (lange) nicht fertig …